Morgen wird sich das isländische Parlament Alþingi mit der Frage beschäftigen, ob es seinen Beschluss vom Herbst 2010, den ehemaligen Ministerpräsidenten Geir H. Haarde vor einen besonderen Gerichtshof, das Landsdómur, zu stellen, zurücknehmen oder aufrechterhalten will.
Geir H. Haarde. Foto: Geir Ólafsson.
Im September 2010 hatte der zur Aufklärung der Vorgänge um den Bankenzusammenbruch eingesetzte parlamentarische Untersuchungsausschuss mehrheitlich empfohlen, vier ehemalige Minister wegen Amtsvernachlässigung vor das Landsdómur zu stellen.
Doch bei der Abstimmung im Alþingi fand sich keine Mehrheit für eine gerichtliche Anklage gegen den früheren Wirtschaftsminister Björgvin G. Sigurðsson und die ehemalige Außenministerin Ingibjörg Sólrún Gisladóttir. Eine Stimme gab den Ausschlag, dass auch der frühere Finanzminister Árni M. Mathiesen der gerichtlichen Vorladung entkam. Nur Ex-Ministerpräsident Geir sollte nach dem Willen der Parlamentarier vor Gericht gestellt werden.
Die sozialdemokratische Ministerpräsidentin Jóhanna Sigurðardóttir hatte sich entschieden gegen jegliche gerichtliche Vorladung der ehemaligen Minister ausgesprochen. Doch unter den 33 Parlamentariern, die für eine Anklage gegen Jóhannas Vorgänger Geir stimmten, waren auch acht der zwanzig sozialdemokratischen Abgeordneten.
Kurz darauf wurde zum ersten Mal in der isländischen Geschichte das Gremium des Landsdómur zusammengestellt: Es setzt sich aus 15 Richtern zusammen, fünf Richter des Obersten Gerichtshofes, der Oberste Richter des Reykjavíker Bezirksgerichts, ein Universitätsprofessor für Verfassungsrecht und acht vom Alþingi gewählte Personen.
Sigríður Friðjónsdóttir wurde als Staatsanwältin gewählt, um die Klage des Parlamentes vor dem Landsdómur zu vertreten. Wegen Streitigkeiten um den Zugang zu Dokumenten und Verfahrensfragen verzögerte sich die Eröffnung des Prozesses bis Mai 2011.
In der Klageschrift heißt es, Geir hätte den Bankenkollaps verhindern können, es aber unterlassen. Ihm werden Verstöße vorgeworfen, die er „vorsätzlich oder in absoluter Rücksichtslosigkeit im Amt als Premierminister in der Zeit vom Februar 2008 bis Anfang Oktober desselben Jahres“ begangen habe.
Geir erklärte sich unschuldig und bezeichnete die Anklage als „absurd“. Er kündigte an, im Falle einer Verurteilung, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anzurufen, und sein Anwalt Andri Árnason forderte, die acht vom Alþingi eingesetzten Richter sollten wegen Befangenheit zurücktreten.
Es macht keinen Sinn, den Prinz zu hängen
Eine Meinungsumfrage ergab im Sommer vergangenen Jahres, dass etwa Zweidrittel der Bevölkerung den Prozess missbilligte. Immer mehr kritische Stimmen erhoben sich angesichts der Tatsache, dass der ehemalige Wirtschaftsminister Björgvin ins Parlament zurückgekehrt war und der frühere Zentralbankchef Davíð Oddsson, der 2009 als einer der Hauptverantwortlichen für die Krise zum Rücktritt gezwungen worden war, nun Chef einer der größten Tageszeitungen Islands war.
Die New York Times schrieb: „Viele sind der Meinung, wenn irgendein Politiker mehr Schuld hat als der andere, dann ist das Davíð Oddsson“ und zitierte Eiríkur Bergmann, den Direktor des Zentrums für Europäische Studien an der Universität Bifröst, der mit Bezug auf Davíð sagte: „Er ist der König und wir hängen mehr oder weniger den Prinzen.“
Im Oktober 2011 wies das Gericht Landsdómur zwei von sechs Anklagepunkten ab. Dabei handelt es sich um die Vorwürfe, Geir habe die Amtspflichten angesichts der großen Gefahr für Islands Finanzinstitutionen vernachlässigt und keine umfassende Abwägung des Finanzrisikos vorgenommen.
Im Dezember brachte Bjarni Benediktsson, der Vorsitzende der oppositionellen Unabhängigkeitspartei, der auch Geir angehört, eine Resolution im Alþingi ein, das Parlament solle seine Anklage gegen den früheren Premierminister fallenlassen.
Nachdem geklärt war, dass es rechtens ist, einen solchen Alþingi-Beschluss zu widerrufen, wurde die Parlamentsdiskussion über Bjarnis Resolution auf den 20. Januar 2012 vertagt. Innenminister Ögmundur Jónasson (Links-Grüne Bewegung), der 2010 noch für die Anklage gegen alle vier Minister gestimmt hatte, hat am Dienstag angekündigt, er werde Bjarnis Resolution unterstützen.
bv