Im Sommer vor zweihundert Jahren erlebte die dänische Kolonie Island eine kurze Periode der Unabhängigkeit.
Weite Teile Europas standen damals unter napoleonischer Herrschaft. Beim englischen Angriff auf Kopenhagen war 1807 fast die gesamte dänische Flotte vernichtet worden. Island war infolge von Napoleons Kontinentalsperre und Englands Übermacht zur See weitgehend von Ausfuhr- und Importmöglichkeiten abgeschnitten.
In London kam der kriegsgefangene Däne Jorgen Jorgenson mit einem Kreis um den Botaniker Sir Joseph Banks in Kontakt. Banks, der einst James Cook auf seiner ersten Südseereise begleitet und 1772 eine Expedition nach Island unternommen hatte, propagierte, Island von der dänischer Herrschaft zu befreien und der britischen Krone zu unterstellen.
Obwohl Jorgen Jorgenson als Kriegsgefangener England nicht verlassen durfte, schloss er sich dem Seifenfabrikanten Samuel Phelps an, der in Island Talg einkaufen wollte. In ihrer Begleitung befand sich der junge Botaniker William Jackson Hooker, der später die Ereignisse der abenteuerlichen Reise aufzeichnete.
Als ihr Schiff im Juni 1809 in Reykjavík eintraf, verbot der dänische Gouverneur Graf Trampe den Einwohnern unter Androhung der Todesstrafe, Handel mit den Briten zu treiben. Das war gegen alle vorher getroffenen Absprachen und Phelps fühlte sich berechtigt, seinen Kaperbrief aus der Tasche zu ziehen.
Nach dem Sonntagsgottesdienst am 25. Juni 1809 stürmten 13 bewaffnete britische Seeleute das Haus des dänischen Gouverneurs, nahmen ihn gefangen und brachten ihn auf ihr Schiff. Niemand kam dem Gouverneur zu Hilfe – sein dänischer Stab in Reykjavík, das damals etwa 300 Einwohner zählte, bestand ohnehin nur aus vier Verwaltungs- und Polizeibeamten.
Da sich der Seifenfabrikant Phelps um seine Geschäfte kümmern wollte, übertrug er Jorgenson die Verwaltung Islands. Der Däne, der wenig Sympathien für sein Geburtsland empfand, schaffte per Proklamation die dänische Regentschaft ab und erklärte Island zu einem unabhängigen Staat unter britischer Schirmherrschaft. Sogar eine eigene Flagge kreierte er für die Isländer: drei weisse Stockfische auf blauem Grund.
Jorgenson bezeichnete sich selbst als „Islands Schutzherr und Oberbefehlshaber zu Wasser und zu Lande“. Allerdings wollte er nur bis zur Wahl einer Nationalversammlung als Interimsregent fungieren. Fast alle isländischen Beamten fügten sich Jorgensons Anordnungen; sie nahmen vermutlich an, er geniesse die Rückendeckung Englands.
Anfang August lief im Hafen von Reykjavík ein englisches Kriegsschiff ein. Kapitän Jones blickte erstaunt auf die isländische Flagge, die über einem der Lagerhäuser wehte. Er zögerte aber einzugreifen – vielleicht handelte Jorgenson doch auf geheimen Befehl der britischen Regierung – und soll sogar einen Ball des neuen Regenten besucht haben, der gerade von einer Inspektionsreise nach Akureyri zurückgekehrt war.
Jorgenson war ein passionierter Spieler. Doch am 22. August war das Spiel aus. Der „König von Island“ wurde als Gefangener nach England zurückgebracht. Die Isländer nennen ihn seitdem „Jörundur hundadagakonungur“ (Jürgen, der Hundstage-König), da seine kurze Regentschaft in die Zeit der hochsommerlichen Hundstage gefallen war.
Die nächsten Jahre verbrachte Jorgenson in Gefängnissen, an Spieltischen und bei Missionen für den britischen Geheimdienst. 1825 wurde er nach Australien verbannt. Er unternahm Expeditionen zu den Aborigines in Tasmanien und wirkte als Publizist und Reiseschriftsteller. Legenden und Anekdoten ranken sich auch in Tasmanien um den abenteuerlichen Freigeist, der am anderen Ende der Welt einst „König“ gewesen war.
Der isländische Historiker Gunnar Karlsson schreibt, das bemerkenswerteste an dieser Episode sei das völlige Fehlen von politischem Nationalgefühl und demokratischen Ideen unter den Isländern in jenen Tagen. Jorgenson hatte ihnen den Traum der Unabhängigkeit vor Augen geführt, aber es dauerte noch zwei Jahrzehnte, bis sich unter Führung von Jón Sigurdsson die isländische Unabhängigkeitsbewegung zu erheben begann.